Deutschland hat die Wahl

zwischen Merkel und Merkel. Wenn nichts Unvorhersehbares geschieht, wird der CDU und Merkel der Sieg nicht mehr zu nehmen sein. Dementsprechend ist der aktuelle Wahlkampf einer der langweiligsten in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Wahl am 24. September entscheidet eigentlich nur noch über den Juniorpartner der CDU in der Regierung. Dafür kommen nur die SPD, die Grünen oder die FDP in Frage, wenn sie denn den Wiedereinzug in den Bundestag schafft. Die Linke und die AfD haben keine Chance, am Regierungsgeschehen beteiligt zu werden, so sehr sie sich auch anstrengen und sich als regierungsfähig darzustellen versuchen. Mit ihnen wird man nur wollen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, eine Regierung zu bilden, und davon sind die Verhältnisse in der Bundesrepublik noch weit entfernt.

Aber die letztlich wirklich politisch wichtige Frage wird nicht die des Wahlsiegers und der Regierungsbildung sein sondern die der Wahlbeteiligung. Denn sie drückt das Ausmaß des Rückhalts aus, den eine Regierung in der Bevölkerung besitzt und den Grad der Unzufriedenheit der schweigenden Mehrheit. Sie gibt Aufschluss darüber, wie viel Legitimation eine Regierung hat, auf wie viel Unterstützung aus der Bevölkerung sie sich noch stützen kann. Bei den Wahlen zuletzt in den USA und Frankreich waren diese Zahlen ernüchternd. Sie zeigen, dass das Volk sich abwendet von denen, die vorgeben, es zu vertreten. Es fühlt sich nicht mehr vertreten von denen, die dazu angetreten sind und sich berufen fühlen.

Gerade für die Politik der Westlichen Wertgemeinschaft (WWG), die sich mit ihrem demokratischen Staatswesen als Speerspitze des gesellschaftlichen Fortschritts versteht und aus dieser Selbsteinschätzung angetreten ist, andere Gesellschaften zu missionieren, bedeutet der Rückgang der Wahlbeteiligung nicht nur einen Schwund an Legitimation für die Regierenden. Er kratzt gleichzeitig am eigenen Selbstverständnis und entzieht einer Politik die moralische Grundlage, die für sich in Anspruch nimmt, anderen die Segnungen der eigenen staatlichen Verfasstheit überstülpen zu dürfen.

Mit welcher moralischen Berechtigung will man andere als gelenkte Demokratien oder gar Unrechtsstaaten verurteilen, wenn im eigenen Land die Bürger sich von den Regierenden nicht mehr vertreten fühlen? Woher will man eine Rechtfertigung für Regime-Change nehmen, wie man es in Syrien, dem Irak oder Afghanistan seit Jahren durch Krieg versucht, wenn selbst die eigene Bevölkerung das Gesellschaftssystem ablehnt, das man glaubt, anderen gewaltsam bringen zu dürfen? Der Widerspruch zwischen der Wirklichkeit im eigenen Lande und der Selbstdarstellung nach außen wird immer schwerer überbrückbar.

Die eigenen Bürger wenden sich ab von der Demokratie. Viele sind enttäuscht und fühlen sich in der Zeit zwischen den Wahlen vernachlässigt. Sie haben das Gefühl, dass bei ihnen immer weniger ankommt und sie als Teil der Gesellschaft immer weniger wahrgenommen werden. Sie fühlen sich verraten, weil diejenigen, die sie gewählt haben, nichts für sie tun. Aber diese Bürger tun selbst auch nichts für sich selbst. Sie kümmern sich nicht selbst um ihre eigenen Interessen. Sie erwarten, dass andere das tun, was sie sich erhoffen, weil sie glauben, dass man es ihnen versprochen hat. Sie glauben, dass „ihre“ Vertreter in ihrem Interesse handeln müssten.

Aber diese Vertreter sind nicht von denen alleine gewählt worden, die sich vernachlässigt fühlen, sondern auch von vielen andern mit anderen Interessen, Interessen, die sich teilweise sogar widersprechen oder gar ganz gegenseitig ausschließen. Die gewählten Vertreter sind Vertreter von Volksparteien, die den Anspruch haben, das gesamte Volk zu vertreten. Sie verstehen sich also nicht als Interessenvertreter, die das politische Interesse einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder gar Klasse vertreten, auch wenn sie sich je nach dem Publikum, vor dem sie sprechen, so geben.

Zwar versuchen sie, vor den Wahlen den Menschen nach dem Munde zu reden, versuchen herauszufinden, was die Wähler bewegt, was sie ihnen anbieten und vorschlagen können, um von diesen gewählt zu werden. Sie versprechen teilweise Unmögliches wie beispielsweise gerade die Nicht-Regierungsparteien AfD und die Linke, sicherlich in dem guten Glauben, die Hoffnungen erfüllen zu können, die sie wecken.

Sie machen Vorschläge, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass manches davon in der kapitalistischen Gesellschaft unter den herrschenden Kräfteverhältnissen gar nicht umsetzbar ist. Sie machen sich gar keine Gedanken um die Grundlagen der Gesellschaft, um die Kräfteverhältnisse zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und Klassen. Sie machen Vorschläge, ohne die Bedingungen zu beachten oder gar zu kennen, unter denen diese umgesetzt werden müssen. Sie verstehen im Grunde die Gesellschaft nicht, in der sie leben.

Wie wollen AfD und NPD ihre vielfach bejubelten und von den C-Parteien teilweise übernommenen Pläne umsetzen, den Zuzug von Ausländern zu begrenzen und Teile der Ausländer des Landes verweisen? Erstens braucht es dazu Staaten, die diese aufnehmen. Das müssten Politiker der C-Parteien, die solche Forderungen, wenn auch abgewandelt, übernehmen, eigentlich wissen, denn sie betreiben das Geschäft schon lange genug.

Zweitens will die deutsche Wirtschaft, die stärkste gesellschaftliche Macht im Lande, den Zuzug von Ausländern. Diese bringen zum Teil Fachkräfte und senken Lohnkosten. Das ist ein Gewinn für die deutsche Wirtschaft, während die Kosten für die Integration die gesamte Gesellschaft trägt. Deshalb hat die deutsche Wirtschaft noch bis vor kurzem Werbung in allen Medien gemacht für die Integration von Flüchtlingen in den deutschen Arbeitsmarkt unter dem Schlagwort „Wirtschaft zusammen“. Dass sie dafür viel Geld in die Hand nimmt, macht deutlich, wie stark die deutsche Wirtschaft an dem Zuzug von Arbeitskräften interessiert ist.

Wie wollen NPD und AfD, aber auch LePen in Frankreich und ähnliche Parteien in anderen Ländern sich gegen diese starken Interessen stellen? Alle Verträge, Gesetze und die Rechtsprechung, ja die gesamte gesellschaftliche Grundordnung stehen in dieser Frage auf der Seite der Interessen von Arbeitgebern und Wirtschaft. Wie wollen sie deutsche Arbeitsplätze an Deutsche geben, wenn nicht einmal klar ist, wer Deutscher ist? Sie scheinen sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass allein der Arbeitgeber über die Vergabe von Arbeitsplätzen bestimmt.

Wie will Trump amerikanische Arbeitsplätze zurückholen in die USA, wenn die Besitzer dieser Arbeitsplätze, die Unternehmen, das nicht wollen, weil die Produktion in China oder sonst irgendwo billiger ist und mehr Rendite abwirft? Bisher ist ihm das nicht gelungen. Gleiches gilt auch für LePen und all die anderen, die Hoffnungen wecken, die sie niemals erfüllen könnten, selbst wenn sie die politische Macht erringen sollten. Die Unternehmen alleine entscheiden darüber, welche Arbeitskräfte sie einstellen, kein Staat, keine Partei. Frankreich selbst ist das beste Beispiel dafür, wie Unternehmen einen Standort meiden, wenn der Staat zu sehr versucht, den Arbeitsmarkt zu regulieren.

Wie will die Partei „Die Linke“ den Druck der Konkurrenz der Unternehmen untereinander aufheben, wenn sie auf ihren Plakaten „sicherer Job, planbare Zukunft“ verkündet, wo doch gerade die Produktivitätssteigerung durch Intensivierung der Produktion die entscheidende Triebkraft des Kapitalismus ist. Produktivitätssteigerung geht nur unter Ersatz der Arbeitskraft durch Maschinerie. Was die Linke fordert, legt, vielleicht ohne es zu wissen, die Axt an den Lebensnerv des Kapitalismus. Der Kapitalismus, vertreten und geschützt durch den kapitalistischen Staat, wird diesem politischen Handeln nicht tatenlos zusehen. Wer sich dessen aber nicht bewusst ist, handelt naiv oder fahrlässig.

All das sind Parolen, die den Unzufriedenen Hoffnung machen auf ein besseres Leben. Aber es sind Hirngespinste vernebelter Hirne, die die Hirne anderer vernebeln. Es sind Vorschläge, die die Enttäuschten beruhigen und den Parolenschwingern so lange Zulauf bringen, wie diese nicht für die Umsetzung ihrer Parolen in Verantwortung treten müssen und bei der Umsetzung an der Wirklichkeit scheitern.

Bestes Beispiel für dieses Scheitern ist Trump, der bisher von all dem, was er seinen Wählern versprochen hatte, nichts hatte umsetzen können. Denn die gesellschaftliche Wirklichkeit ist anders als die Hirngespinste derer, die da glauben, dass ihr Wille allein Berge versetzen kann.

Die Politiker verraten die Wähler nicht nach den Wahlen, sie machen es vorher, indem sie Versprechungen machen, die nicht einhaltbar sind. Viele machen das aus Unwissenheit und idealistischer Selbsttäuschung. Sie wollen vielleicht das Gute (was immer das auch sein mag) und täuschen sich selbst über ihre Möglichkeiten, das Gute umzusetzen unter den gegebenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie verbreiten Illusionen über die Möglichkeiten, die das politische System zulässt, weil ihnen nicht bewusst ist, dass es nicht nur ihre idealistischen Ideen gibt, sondern auch eine handfeste Wirklichkeit, die sich nach Interessen richtet. Sie täuschen andere, weil sie sich selbst täuschen über die Wirklichkeit.

Diese drückt sich aus in den Rahmenbedingungen der herrschenden Gesellschaftsordnung in Form von Gesetzen, Verträgen sowie den staatlichen Strukturen und Herrschaftsinstrumenten, die sich über die Jahrzehnte hin entwickelt haben und das Gerüst eines jeden politischen Systems ausmachen. Diese Wirklichkeit besteht aber auch in den unterschiedlichen Interessengruppen einer Gesellschaft und den Kräfteverhältnissen, die zwischen diesen Gruppen und Klassen herrschen. Das Verhältnis der gesellschaftlichen Interessengruppen untereinander bestimmen die Stabilität einer Gesellschaft, wobei Einfluss und Macht besonders der Wirtschaft und Unternehmerverbände oftmals weiter reichen als die des Staates. Dieser Realität sind sich viele derer nicht bewusst oder blenden sie bewusst aus, die um die Stimmen der Bürger werben. Sie handeln in gutem Glauben, aus Idealismus und Verblendung gegenüber dieser Wirklichkeit.

Und dann gibt es aber auch jene Politiker, die um diese Zusammenhänge wissen und trotzdem ein anderes Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit verbreiten. Sie täuschen die Öffentlichkeit bewusst. Sie sind die wirklich politisch Denkenden in der Politik im Gegensatz zu den Idealisten. Denn sie wissen um die Grenzen des politischen Systems. Sie wissen, dass sie die Öffentlichkeit täuschen, dass sie sie täuschen müssen und der Bevölkerung die Wahrheit über die wirklichen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse nicht sagen können, nicht sagen dürfen. Sie wissen, dass die Bevölkerung getäuscht werden muss, damit die bestehende gesellschaftliche Ordnung erhalten werden kann.

Denn sie fühlen sich dieser Ordnung, der kapitalistischen Ordnung, verbunden und verpflichtet. Ihnen geht es nicht um den finanziellen Vorteil, wie so viele der Enttäuschten immer wieder unterstellen. Die Korrupten sind eher die Idealisten, die sich desillusioniert und verbittert nur noch um den eigenen Vorteil kümmern, wenn sie merken, dass ihre hohen Ideale an der Wirklichkeit zerbrechen. Die wirklich politisch Denkenden unter den Politikern sind diejenigen, die von der Überlegenheit von Demokratie und Kapitalismus überzeugt sind. Und deshalb geht ihnen der Erhalt der Ordnung, ihre innere, weltanschauliche Bindung an diese Ordnung vor ihrer Bindung gegenüber ihren Wählern.

Aber das können sie den Menschen nicht sagen, wollen sie nicht riskieren, dass diese die herrschende Ordnung in Frage stellen und sich immer mehr von ihr abwenden. Denn nur die Zustimmung oder zumindest die passive Duldung der Bürger gegenüber dem politischen System ist die Grundlage seines Überlebens. Wenn aber die bejahende Zustimmung zur gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr gegeben ist, ein Prozess, der sich seit Jahren in Deutschland und den westlichen Demokratien vollzieht, dann muss wenigstens verhindert werden, dass sich immer mehr Bürger von ihm abwenden oder gar es überwinden wollen.

Diese Gefahr wird immer größer, je weniger die herrschende gesellschaftliche Ordnung den Menschen eine Lebensgrundlage bieten kann. Sie ist in Deutschland nicht so hoch wie beispielsweise in den südlichen Mitgliedsländern der EU. Aber sie wächst auch in Deutschland, wenn auch Medien und Politik alles daran setzen, Armut und Arbeitslosigkeit, die Spaltpilze der gesellschaftlichen Ordnung, nicht zum Thema öffentlicher Diskussion werden zu lassen.

Die Spaltung der Gesellschaft in Muslime und Nicht-Muslime, in Deutsche und Ausländer, in Hartzer und solche, die unter der Arbeitsüberlastung krank werden, wird von Teilen der Medien und Politik gefördert. Aber für alle steigen zur Zeit die Butterpreise gleich. Sie alle werden gleichermaßen an den Zapfsäulen gemolken und von den Stromkonzernen, die trotz Überangebot an Strom den Preis für die kleinen Verbraucher weiterhin künstlich hoch halten. Dagegen aber helfen keine Wahlen. Und das wird auch nicht besser durch die Ausweisung von Ausländern und anderen oder durch das Verbot von Kopftüchern.

Rüdiger Rauls Buchveröffentlichungen:

 

Herausgeber von: