Theorie und Wirklichkeit

Der folgende Beitrag bezieht sich als Leserbrief auf den Artikel „Das Erbe der Finanzkrise“ von Gerald Braunberger in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.9.2018. Er ist bisher nicht veröffentlicht worden. Da er aber sehr grundsätzliche Fragen diskutiert, habe ich ihn hier veröffentlicht.

Sehr anschaulich und verständlich stellt Braunberger die Entwicklungen und Hintergründe dar, die zur Finanzkrise des Jahres 2008 führten. Sicherlich ohne es beabsichtigt zu haben, machen seine Ausführungen aber auch ein Zweites offensichtlich. Die Entwicklungen der letzten Jahre sind durchzogen von Fehleinschätzungen und Irrtümern der Führungskräfte und Wirtschaftswissenschaftler.

So wird in dem Beitrag „eine wesentliche Ursache für die Eskalation der Krise in der Rolle der kurzfristigen Verschuldung“ identifiziert. Bis dahin hatte als unstreitig gegolten, dass „kurzfristige Schulden zumeist als sicher“ anzusehen waren, weshalb „Bonität normalerweise nicht hinterfragt“ wurde.

Des weiteren stellt Braunberger fest, dass man nach den vorhandenen Modellen, die unter anderem von niemand geringerem als Ben Bernanke stammten, davon ausging, dass sich „Märkte und Wirtschaft schnell wieder“ erholen würden. Anhand der Realität wurde jedoch offensichtlich, dass „das Verständnis für eine dramatische, sich selbst verstärkende Krise fehlte“.

Auch in weiteren Formulierungen unter anderem über „realitätsnähere Modelle“ bezüglich der Auswirkungen einer schweren Finanzkrise auf die Wirtschaft, „Spekulationen über eine baldige neue Krise“, den Streit der Fachleute über die Eigenkapitalausstattung der Banken oder die Auswirkungen eines eventuellen Schuldenschnitts wird die Unsicherheit deutlich, die in den sogenannten Fachkreisen herrscht.

Nicht zu vergessen die großen Fehleinschätzungen wie jene von Ben Bernanke, dass mit der Geldpolitik, die nach der Dot-Com-Krise und den Anschlägen des 11. September ein Abgleiten der USA in die Krise verhindert hatte, ein Mittel gefunden sei, mit dem zukünftige Krisen des Kapitalismus ausgeschlossen werden könnten.

Und was ist übrig geblieben von den Theorien, die Inflation zurückführten auf ausufernde Geldmengen? Seit dem Beinahezusammenbruch des Weltfinanzsystems wurden die Märkte mit so viel Kapital geflutet, dass die Inflation in unglaubliche Höhen hätten steigen müssen. Aber die Inflationsraten sind niedrig wie nie zuvor – zumindest in den Industriestaaten. Andererseits scheint sich diese Theorie in den Schwellenländern zu bestätigen. Jedoch was ist das für eine Theorie, die mal gilt und mal wieder nicht?

Die Ratingagenturen hatten seinerzeit mit den Investment-Banken die Zusammensetzung der strukturierten Anleihen abgesprochen, sodass ihnen ein AAA-Rating erteilt werden konnte. Daraus wurde ihnen der Vorwurf gemacht, gemeinsam die Anleger betrogen zu haben. Aber es handelt sich dabei nicht um Betrugsabsichten. Die Ratingagenturen legten diese Zusammensetzung der Kreditverbriefungen nahe auf der Basis ihres Wissens über das Finanzsystem. Sie waren überzeugt, dass die von ihnen vorgeschlagene Bündelung unterschiedlich besicherter Kredite, ein AAA-Rating verdiene wegen der Ausfallsicherheit, die sie darin sahen. Aber das gerade ist das Gefährliche. Sie handelten nicht betrügerisch, sondern aus mangelndem Wissen und falscher Einschätzung.

Prognosen, die nicht eintreten, und Theorien, die sich in der Wirklichkeit nicht bewahrheiten, offenbaren, was nicht leicht zu glauben ist: Aber die führenden Köpfe des Kapitalismus verstehen ihn nicht. Sie kennen nicht die inneren Triebkräfte dieses Wirtschaftssystems. Das wird immer wieder offensichtlich, wenn der Kapitalismus Erscheinungen hervorbringt, mit denen die Fachleute nicht gerecht haben.

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