Unruhe in den Schwellenländern

Die sozialen Spannungen in Venezuela schlagen um in Gewalt. In Marokko, das bisher von der Arabellion weitestgehend verschont blieb, macht sich Unruhe breit, ebenso in Algerien. Der Bürgerkrieg in Syrien dauert nun schon über 5 Jahre. Libyen zerfällt immer mehr. Und in den Staaten wie Tunesien und Ägypten, in denen die Arabellion ihren Ausgang genommen hatte, ist die gesellschaftliche Ruhe trügerisch, oftmals nur Ergebnis staatlicher Repression. Unter der Oberfläche gärt es weiter, und jederzeit können die Konflikte wieder aufbrechen. Aber was ist es, das da im Untergrund, im Flussbett der Gesellschaften treibt?

Liegt es an den falschen Leuten, die da regieren, ohne Phantasie, ohne die neusten (wirtschafts-)wissenschaftlichen Erkenntnisse, oder an den korrupten Eliten, die nur Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme kennen und den Staat als Selbstbedienungsladen sehen? Sicherlich kommen solche Erscheinungen vor in der Dritten Welt und in den Schwellenländern und sicherlich auch in den Industriestaaten. Aber haben diese Entwicklungen nicht auch etwas mit gesellschaftlichen Bedingungen zu tun, die selbst diejenigen, die mit den besten Vorsätzen angetreten sind, nicht einfach durch ihren guten Willen allein außer Kraft setzen können? Wie das Beispiel Griechenland bestens zeigt, scheint allein der Austausch der Akteure wenig zu verändern,  solange nicht auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen stattfindet. Um die Vorgänge zu verstehen, ist die Untersuchung und Offenlegung dieser gesellschaftlichen Bedingungen unumgänglich. Erkenntnis ist das Ziel.

Dazu gehört auch die Feststellung, dass die meisten Regierungen nicht antreten, um ihr Volk zu knechten oder an den Imperialismus zu verkaufen. Das mögen viele dieser sich schonungslos wähnenden Kritiker nicht gerne hören. Aber die meisten Regierungen treten an, um die Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung zu verbessern. Dabei wird Beibehaltung der gesellschaftlichen Grundordnung nicht in Frage gestellt, die in der Regel eine kapitalistische ist. Die Regierungen wollen auf der Basis der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Lebensbedingungen in den eigenen Ländern verbessern. Denn erstens hat dieser Kapitalismus in seinen Hochburgen zu einem bisher in der Menschheitsentwicklung nie gekannten Wohlstand in breiten Teilen der Bevölkerung geführt. Und zweitens sind nur unter Einhaltung der Regeln dieser Grundordnung private Geldgeber bereit, Investitionen zu tätigen.

Zudem besteht nach dem Zerfall des Sozialismus in den 1990er Jahren keine andere Grundordnung mehr, an der sich die Schwellenländer orientieren und von wo sie auch Unterstützung beim Aufbau ihrer Gesellschaft erwarten könnten. Mit dem Untergang des frühen Sozialismus ist der Kapitalismus in der öffentlichen Wahrnehmung alternativlos geworden.

Bei ihrem Vorhaben, den Lebensstandard des eigenen Volkes zu heben, stoßen die meisten Regierungen besonders in den Schwellenländern jedoch auf schwierige gesellschaftliche und wirtschaftliche Gegebenheiten. Diese bestehen in der Regel in Kapitalmangel, geringer Industrialisierung und einem niedrigen wissenschaftlich-technischen Entwicklungsstand der Bevölkerung, die zudem im allgemeinen zu groß ist, gemessen an der wirtschaftlichen Leistungskraft des Landes. Hohe Arbeitslosigkeit ist die Folge. Die Wirtschaft des Landes ist nicht in der Lage, der eigenen Bevölkerung eine verlässliche Lebensgrundlage zu bieten.

Wie bedeutend die Arbeitsplätze sind für die Stabilität dieser Staaten, wird aus Zitaten deutlich, die Artikeln der Frankfurter Allgemeine Zeitung entnommen wurden. „Das nordafrikanische Land braucht dringend neue Arbeitsplätze“ (FAZ 22.5.2017: Algerien will seine Abhängigkeit vom Öl verringern). „Das drängendste Anliegen ist die wachsende Arbeitslosigkeit“ (FAZ 20.5.2017: Iran zwischen Wachstum und Widerstandswirtschaft). „Die Investitionen sollen … Wachstum erzeugen und Arbeitsplätze schaffen…“ (FAZ 29.4.2017: Deutschland hilft beim Umbau der saudischen Wirtschaft). „… ähnlich perspektivlos ist das Leben vieler junger Marokkaner“ (FAZ 1.6.2017: Gegen den Imam und den König).

Bei der wirtschaftlichen Entwicklung auf der Basis des Kapitalismus können im Wesentlichen nur zwei Wege beschritten werden: Aufbau des Kapitalismus aus eigener Kraft oder aber mithilfe ausländischer Investoren. Ersterer war der Weg des frühen Kapitalismus, aus dem sich die heutigen führenden Industrienationen entwickelten, die USA und die kapitalistischen Staaten des europäischen Kontinents, besonders in der Mitte Europas. Das ist aber auch der Weg, den heute einige Staaten mehr oder weniger ungewollt gehen müssen, weil sie durch Embargos an ihrer Entwicklung gehindert werden wie der Iran, Kuba, Simbabwe, Nordkorea, Russland und andere oder weil ausländischen Kapitalgebern eine Investition in diesen Ländern politisch zu riskant oder wirtschaftlich nicht ertragreich genug ist.

So wären Investitionen in die Förderung von Rohstoffen in Ländern wie Kongo und vielen andern des afrikanischen Kontinents sicherlich lohnend für Kapitalgeber, wären da nicht die unsicheren politischen Verhältnisse. Denn dort besteht das erhöhte Risiko, dass das in Förderanlagen investierte Kapital durch Bürgerkrieg und Unruhen vernichtet werden könnte oder sich die Erträge der Investition verschlechtern, wenn politische Kräfte die Macht erringen, die den Investoren nicht wohl gesonnen sind.

Dritte-Welt-Länder ohne Rohstoffe sind für Investoren weitgehend uninteressant, selbst wenn sie politisch stabil sind. Denn sie verfügen nicht über ausreichend qualifizierte Arbeitskraft. Diese ist dort zwar billig, aber sie ist im Verhältnis zur Arbeitskraft in den Industrienationen von nur geringer Produktivität. Es fehlt ihr an den notwendigen technischen Kenntnissen und der Erfahrung mit dem kapitalistischen Produktionsprozess. Deshalb ist es für die Länder der Dritten Welt schwierig, Investoren zu gewinnen.

Diese ungünstigen Voraussetzungen bezüglich der Qualität der Arbeitskraft bringen auch viele Schwellenländer mit sich, so auch Saudi-Arabien, Algerien, Libyen, und viele andere rohstoffreiche Länder des Nahen Osten. Ihre Attraktivität lag in den Rohstoffen und den relativ stabilen politischen Verhältnissen bis zum Beginn der Arabellion. Diese innenpolitische Ruhe war zum Teil auch Ergebnis von Sozialprogrammen wie der Subventionierung von Lebensmitteln und Energie, die aus der Vermarktung der Rohstoffe finanziert werden konnten. Das galt nicht nur für die Staaten des Nahen Osten sondern auch für andere Ölförderländer wie Venezuela.

Um den Menschen eine Lebensgrundlage zu bieten, gingen besonders diese Staaten mit hohen Einnahmen aus der Vermarktung von Rohstoffen dazu über, Arbeitsplätze zu schaffen durch die Aufblähung der staatlichen Verwaltung. Die Hintergründe solcher Maßnahmen beschreibt der Artikel „Algerien will seine Abhängigkeit vom Öl verringern“ der FAZ vom 22.5.2017: „Rund 60 Prozent der Algerier sind beim Staat beschäftigt, der zusätzliche Stellen schaffen konnte, solange die Einnahmen aus dem Energiegeschäft reichlich flossen“. Ähnlich sind die Verhältnisse in Venezuela, Libyen, auch in Saudi-Arabien, ebenso in Afghanistan unter den Regierungen Dauds vor dem Ende des Königtums (siehe Rüdiger Rauls: Die Entwicklung der frühen Gesellschaften). Es ist also nichts Einmaliges sondern vielmehr ein Weg zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch Staaten unter vergleichbaren gesellschaftlichen Bedingungen.

Neben der Ausweitung der staatlichen Verwaltung wurde in Ländern mit ähnlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen der Aufbau staatlicher Unternehmen in Angriff genommen. Das war einerseits ein Versuch, die Entwicklung einer eigenständigen nationalen Wirtschaft voranzutreiben und gleichzeitig Arbeitsplätze zu schaffen. Dass der Staat als Unternehmer und damit als Arbeitgeber auftritt, ist also kein Einzelfall und darüber hinaus auch nicht dem Mangel an Kenntnissen moderner westlicher Volkswirtschaftstheorien geschuldet. Den Staaten bleibt keine andere Möglichkeit, denn es fehlt an privaten Investoren und dadurch an Arbeitsplätzen außerhalb der staatlichen Sphäre. „Die private Wirtschaft bietet kaum Ausweichmöglichkeiten. Die Industrie hat nur einen Anteil von 5,6 Prozent am Bruttoinlandsprodukt“ (FAZ 22.5.2017: Algerien will seine Abhängigkeit vom Öl verringern).

Die oftmals erhobene Kritik der führenden kapitalistischen Staaten an solchen Praktiken der staatlich gelenkten und beherrschten Wirtschaftsförderung ist unredlich. Denn sie ignoriert einerseits, dass es zu wenig private Investoren gibt, und lenkt zweitens davon ab, dass auch in den führenden kapitalistischen Staaten immer wieder der Staat zugunsten der Wirtschaft in das Marktgeschehen eingreift. Erwähnt seien hier die Konjunkturprogramme als Ersatz für private Nachfrage wie die Abwrackprämie 2009 oder Rettungsmaßnahmen wie die Bankenrettung im selben Jahr.

Diesen oben beschriebenen Wegen zum Aufbau der nationalen Wirtschaft in den vorindustriellen Ländern wurde die Grundlage entzogen durch den Verfall der Ölpreise. Besonders deutlich wird das in Venezuela, wo durch den Einbruch der Öleinnahmen die Dollarbestände so massiv gesunken sind, dass Lebensmittel und Medikamente nicht mehr eingeführt werden können. Es ist nicht das diktatorische Regime Maduros, das die Bevölkerung in die Revolte treibt, sondern das Preisdiktat der Märkte, das die venezuelanische Regierung ihrer Möglichkeiten beraubt, Sozialprogramme zugunsten der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Um weiterhin an Dollars zu kommen, sah sich die Regierung Venezuelas gezwungen, Anleihen an Goldman Sachs zu einem Drittel ihre Nennwertes zu verkaufen.

Aber selbst auf die reichen Staaten im Nahen Osten hat der Einbruch des Ölpreises tiefgreifende Auswirkungen. So sind alleine im April „die Währungsreserven Saudi-Arabiens von 501 auf 493 Milliarden Dollar gefallen. … Im Sommer 2014 betrugen sie [noch] 737 Milliarden Dollar. Der Rückgang … ist in der Tendenz durch den fallenden Ölpreis erklärbar“ (FAZ 30.5.2017: Weniger als 500 Milliarden Dollar). Das heißt, dass die Währungsbestände des Landes innerhalb von drei Jahren um fast ein Drittel geschrumpft sind.

Das Land reagierte auf diese Entwicklung mit den üblichen Maßnahmen, mit denen im Rahmen des Kapitalismus gehandelt werden kann, um Einnahmen und Ausgaben wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wenn die Ausweitung der Einnahmen nicht möglich ist, müssen die Ausgaben des Staates zurückgefahren werden, um Verschuldung zu vermeiden oder zu reduzieren. Der Ertrag aus dem Verkauf der Energieträger sinkt, die Erträge aus anderen Wirtschaftsbereichen sind unbedeutend, weil andere Wirtschaftszweige nicht entwickelt oder konkurrenzfähig sind. Also werden Subventionen gekürzt, weil nur hier im Rahmen der kapitalistischen Ordnung eine Möglichkeit besteht, auf das Missverhältnis von Staatseinnahmen und Staatsausgaben aus eigener Kraft einzuwirken. Denn auf die Staatsausgaben haben die Regierungen Einfluss, nicht auf die Preisgestaltung an den Märkten.

So wurden im reichen Saudi-Arabien die Subventionen für Wasser und Strom gekürzt, wohl gegen Ausgleichszahlungen für Familien mit niedrigen Einkommen. Weil in Algerien die Staatseinnahmen innerhalb von nur fünf Jahren von 70 Mrd Dollar auf 25 Mrd fielen, blieb der Regierung keine andere Wahl, als ein Sparprogramm zu beschließen. „Im Vergleich zu 2015 halbierte sie fast den Staatshaushalt, erhöhte die Mehrwertsteuer sowie die Preise für Treibstoff, Strom und öffentliche Dienstleistungen“ (FAZ 22.5.2017: Algerien will seine Abhängigkeit vom Öl verringern). Und in Venezuela erschüttern die Maßnahmen zum Abbau des Zahlungsbilanzdefizits gerade das Land. Dabei handelt es sich bei all den hier erwähnten um Länder, die über einen großen Reichtum an natürlichen Ressourcen verfügen.

Es wird immer deutlicher, dass dieser passive Reichtum nicht ausreicht, um langfristig Lebensstandard und Lebensgrundlagen der eigenen Bevölkerung zu sichern. Es müssen Mittel geschaffen werden, um den Reichtum eines Landes aktiv gestalten zu können, das bedeutet durch produzierende Wirtschaftstätigkeit. Zwar hatten viele Staaten bereits nach der Entkolonialisierung mit dem Aufbau eigener Industrien begonnen, der Erfolg blieb jedoch aus vor allem wegen des niedrigen Bildungsniveaus der heimischen Arbeitskräfte. Die Abhängigkeit vom Öl und vom Westen konnte nicht aufgehoben werden.

Mit dem Niedergang der Ölpreise versuchen die Staaten des Nahen Osten und Nordafrikas diesen Prozess der Ablösung des Öls und den Aufbau der eigenen Wirtschaft zu beschleunigen. Saudi-Arabien will unter anderem mit deutscher Hilfe „eine wettbewerbsfähige und wissensbasierte Wirtschaft aufbauen“ (FAZ 29.4.2017: Deutschland hilft beim Umbau der saudischen Wirtschaft). Ziel ist es, „die Wertschöpfung in Saudi-Arabien zu erhöhen…“ (ebenda). Dazu will Saudi-Arabien „künftig verstärkt sein Erdöl zu Chemikalien verarbeiten und sein Erdgas zu Elektrizität“ (FAZ 29.4.2017: Der überfällige Besuch).

Auch Algerien, das in die Turbulenzen des fallenden Ölpreises geraten ist, versucht, „die eigene Industrie zu beleben“ (FAZ 22.5.2017: Algerien will seine Abhängigkeit vom Öl verringern). „Durch den Ausbau der petrochemischen Industrie und der Raffinerien soll mehr Geld im eigenen Land bleiben…“ (ebenda). Es ist offensichtlich ein Fortschritt eingetreten in den Erkenntnissen der Verantwortlichen, dass es nicht ausreicht, wie in den Zeiten der Entkolonialisierung eigene Industrien aufzubauen, deren Errichtung die Staaten in finanzielle Bedrängnis oder Abhängigkeit brachten und die man im schlimmsten Falle aber selbst nicht bedienen konnte.

Wegen der hohen Kosten für den wirtschaftlichen Aufbau müssen die Produkte nicht nur den eigenen Markt bedienen können, sie müssen auch auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein, das heißt sie müssen zur Wertschöpfung beitragen können. Die Abhängigkeit vom Öl oder anderen Rohstoffen kann nur beseitigt werden, wenn die Einnahmen aus dessen Vermarktung durch andere Produkte ersetzt werden können. Dazu haben sich die inneren Voraussetzungen der Länder besonders Nordafrikas und des Nahen Osten durch die Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus erheblich verbessert.

Aber es hat sich in der Zwischenzeit die Marktsituation geändert. Die Weltmärkte sind überflutet mit Waren. Zusätzliche Produktionskapazitäten werden es schwer haben, ihren Anteil an diesem Markt zu erringen. Investoren sind nur an der Eröffnung neuer Standorte interessiert, wenn die Produktion dort zu niedrigeren Kosten möglich ist als auf dem Weltmarkt üblich. Deshalb setzen beispielsweise Algerien und Saudi-Arabien auf die Beteiligung westlicher Partner, nicht nur als Geldgeber, sondern auch als Vermittler von fortschrittlichem Know-how.

Damit aber Algerien nicht nur zum Absatzmarkt für westliche Produkte wird und das Geld nicht aus dem Land fließt anstatt dort für Investitionen genutzt zu werden, hat man „Fahrzeughersteller verpflichtet, einen Teil ihrer Produktion nach Algerien zu verlagern, wenn sie dort verkaufen wollen“ (ebenda). Zudem dürfen in Gemeinschaftsunternehmen „internationale Investoren maximal 49 Prozent der Anteile halten“ (ebenda). Das setzt einerseits dem Engagement westlicher Investoren Grenzen und andererseits aber auch ihrem Interesse. Diese mangelnde Bereitschaft der Investoren drückt sich aus im Ranking Algeriens für die beliebtesten Investitionsstandorte. Auf dem „Ease of Doing Business Index“ der Weltbank „nimmt Algerien in der aktuellen Ausgabe den 156. (von insgesamt 190) ein“ (ebenda).

Die Situation Algeriens beschreibt exemplarisch die Kluft zwischen den Anstrengungen der Regierungen, die Wirtschaft des eigenen Landes fördern zu wollen, und den Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, Investoren anzulocken. Dabei sitzen die Investoren am längeren Hebel. Und von ihren Entscheidungen hängt vielmehr ab als von den Regierungen, inwieweit Arbeitsplätze geschaffen werden und den Menschen damit eine Lebensgrundlage.

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