Von falschen und richtigen Ansichten

Unter dem Titel „Das verborgene Erbe der Linken des Kapitals“ setzt sich die Linke Zeitung in mehreren Beiträgen eines/r gewissen C. Mir mit dem Scheitern der Linken aller Schattierungen auseinander. Diese Aufarbeitung ist sinnvoll und überfällig. Aber wie bei so vielen theoretischen Ergüssen westlicher Linker ist bereits im Ausgangspunkt das Scheitern des Projekts angelegt. Denn C. Mir geht von einer idealistischen Vorstellung von richtigen und falschen Ansichten aus

Dazu der folgende Kommentar

Es stellt sich die Frage, wer C. Mir ist, dass er für sich zu wissen in Anspruch nimmt, was eine „falsche Auffassung“ ist. Woran misst er das, womit wiegt er, was ist der Maßstab für seinen Anspruch? Unfehlbarkeit kennt man sonst nur aus der katholischen Kirche und selbst die hat bereits Abstand genommen von der Vorstellung, dass der Papst unfehlbar sei. Mittlerweile wurde dieser Anspruch reduziert auf Glaubens- und Sittenfragen.

Auch wenn C. Mir sich marxistisch gibt, so ist doch seine Sichtweise eher idealistisch, also geprägt von der Vorstellung eines Idealzustandes, den es zu erreichen gilt. Es fehlt ihm die historisch-materialistische Herangehens- und Sichtweise. Denn was C. Mir heute als falsche Ansichten bezüglich Arbeiterklasse und Kommunismus bezeichnet, galt in früheren Zeiten als „richtige“ Ansichten, sonst könnte er sie heute nicht als falsch bezeichnen. Aber wodruch wurde diese Ansichten falsch? Antwort: Sie haben sich nicht als der Wirklichkeit angemessen erwiesen. D.h: Sie zerbrachen an der Wirklichkeit.

C. Mir übersieht, dass Arbeiterklasse, Kommunismus und die Ansichten dazu auch dem Wandel unterliegen. Das sind keine unverrückbaren Naturgesetze, die nur „richtig“ und „falsch“ kennen. Die Arbeiterklasse heutzutage sieht anders aus als zu den Zeiten des verschärften Klassenkampfes zwischen den beiden Weltkriegen. Das ist aber die Zeit, in der Leute wie C. Mir festzuhängen scheinen und weshalb ihre Sichtweisen auf keinen fruchtbaren Boden fallen. ​

Wie der heutige Kapitalismus nicht mehr dem Manchester-Kapitalismus des 19. Jhrd gleicht, so gleicht auch die Arbeiterklasse heute nicht mehr der der damaligen Zeit. Wie der heutige Kapitalismus nicht mehr dem zwischen den Weltkriegen entspricht, so entspricht auch die Arbeiterklasse nicht mehr der damaligen. Sie ist zwar objektiv in all diesen Perioden immer Arbeiterklasse geblieben und damit eine ganz besondere Klasse, denn sie ist die wertschaffende. Aber dennoch stellt sie sich heute anders dar als vor Jahrzehnten. Und ähnliches gilt auch für den Sozialismus. Nicht umsonst haben so viele Linke und solche, die sich dafür halten, so große Probleme mit China.

Die Arbeiterklasse unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel wie die Gesellschaft insgesamt. Versuche, die Sichtweisen und Rezepte früherer Generationen auf die heutige Zeit zu übertragen, schlagen da fehl. Und die Vorstellung von der Unfehlbarkeit der eigenen Sichtweisen ist so überholt wie der Glaube an die unbefleckte Empfängnis der Mutter Gottes.

Es hilft der Linken nicht weiter, das eigene Scheitern den falschen Sichtweisen der anderen unterzujubeln. Damit lügt man sich nur in die eigene Tasche. Es hilft nur weiter, den offenen Meinungsaustausch zu pflegen im Interesse an Erkenntnis. Denn es geht um nichts Geringeres als das Erkennen der Wirklichkeit. Nur auf der Basis des Erkennens der Wirklichkeit, der wirklichen Wirklichkeit außerhalb der Hirngespinste in den Köpfen, bietet das Einwirken auf die gesellschaftlichen Verhältnisse die Aussicht auf Erfolg.

Das sind – wie Brecht es einmal in anderem Zusammenhang ausdrückte – die Mühen der Berge. Denn das Erkennen der Wirklichkeit ist die schwerste aller Übungen im politischen Treiben. Sie bedeutet Anstrengung und Disziplin, ehrlichen und solidarischen Umgang mit anderen Ansichten, kritischen Umgang mit den eigenen Ansichten und vor allem ständige Überprüfung der Ansichten an den Vorgängen in der Wirklichkeit. Denn jede Theorie ist falsch, wenn sie nicht durch die Wirklichkeit gedeckt ist.

Das Hinausposaunen von Prophezeiungen, Visionen und Zukunftsentwürfen, das sind die Mühen der Ebene. Das kann jeder. Das sind die Kopfgeburten, die morgen schon längst vergessen sind. Wer überprüft denn schon, ob die Prophezeiungen der Vorjahre am Ende tatsächlich eingetreten sind? Die Propheten selbst am wenigsten, zumal wenn sie denn falsch gelegen haben. Nur wenn sie mal richtig lagen, dann tragen sie den Wanderpokal der Selbstdarstellung vor sich her wie die Katholiken die Monstranz an Fronleichnam.

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